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Prix Marcel Duchamp 2000:
Sieben Fragen für Thomas Hirschhorn


 

Am ersten Dezember 2000 wurde mit Thomas Hirschhorn der Gewinner des Prix Marcel Duchamp bekanntgegeben, der in diesem Jahr erstmalig verliehen wurde. Für zeitgenössische, in Frankreich lebende Künstler bestimmt, ist die Auszeichnung mit einem Preisgeld von FF 200.000 (etwa DM 60.000) verbunden sowie der Möglichkeit einer zweimonatigen Ausstellung im Centre Pompidou, Paris. Hirschhorns "Pole Self" wurde dort zwischen dem 28. Februar und dem 30. April 2001 gezeigt.

Hirschhorn ist natürlich der Kunstwelt nicht fremd. 1957 in Bern geboren, hatte der Künstler bereits europaweit seine Werke gezeigt, als ihn Catherine David 1994 im Jeu de Paume präsentierte. Und mit fünf Einzelausstellungen allein in 2001, von Zürich bis Barcelona, sowie seiner Teilnahme an internationalen Kunstschauen, etwa der Biennale von Venedig, ist auch die Nachfrage an seinen Werken stetig gewachsen.

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Various installation views of Thomas Hirschhorn's "Pole Self," Paris, Centre Pompidou, February 28 – April 30, 2001

Sein Oeuvre indes ist nicht leicht zu erfassen und fast unmöglich zu vergessen. Hirschhorn verwendet alltägliche Materialien wie Silberfolie, Pappe und Klebestreifen für seine meist mehrere Räume umspannenden Installationen. Wo immer sie gezeigt wird, scheint seine Kunst zu wachsen und sich auszubreiten. Einigen Betrachtern mögen seine Environments schlichtweg hässlich, seine Werkstoffe zu billig und der Versuch, den Besucher intellektuell zu involvieren als allzu didaktischer Eifer erscheinen. Natürlich, hier findet man nicht die unnahbar glattpolierten Oberflächen eines Jeff Koons. Der Gebrauch des Materials gründet sich auf einer demokratisch-egalitären Vorstellung, die dem Betrachter die Nachvollziebarkeit der Kunstproduktion möglich macht. Und Kunst ist nicht nur zum ästhetischen Wohlbefinden gedacht sondern erfordert eine Auseinanderzeitung, die Zeit bedarf, den Betrachter einbezieht und Ideen wie Vorstellungen generiert. Oft baut Hirschhorn "Altäre" oder "Kioske" im öffentlichen Raum, die er Schriftstellern und Künstlern wie Raymond Carver oder Robert Walser, Ingeborg Bachmann und Meret Oppenheim widmet. Er setzt sich mit dem Holocaust auseinander und verballhornt die Obsession seines Heimatlandes mit der Produktion von Luxusgütern. Für "Pole Self" hat Thomas Hirschhorn mehrere Räume im Centre Pompidou in eine Bibliothek umgewandelt, in der Bücher an Metallketten von der Decke baumeln. Andere Installationen beherbergen Sandsäcke zum Reinschlagen und einen "antikapitalistischen Müllcontainer" mit Büchern über Luxus und Wohlstand.

Die Londoner Kunstkritikerin Kate Bush pries in der Dezemberausgabe (2001) von Artforum kürzlich die "unverwechsalbare Nonästhetik" des Künstlers, "begründet auf wackligen Formen, billigem Material und einem Wirbelwind von Bildern und Worten – [...] angetrieben von einem Gefühl der Dringlichkeit und Unbegreiflichkeit angesichts einer Katastrophe, die uns unter seinem unversöhnlichem Neon keine Möglichkeit zum Versteck mehr gibt."

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Figure 1
Figure 2
Figure 3
Thomas Hirschhorn,
Sas de Contamination
, 2000
Thomas Hirschhorn,
Raymond Carver-Altar
, 2000

Thomas Hirschhorn,
Deleuze Monument
, 2000

Figure 4
Figure 5
Figure 6
Thomas Hirschhorn,
Critical Laboratory
, 2000
Thomas Hirschhorn, Rolex, etc, Freudlichs Aufstieg and Skulptur-Sortier-Station, 2000
Thomas Hirschhorn,
Flying Boxes
, 1993


*All documentation (figures 1-6) from Gilles Fuchs (ed.), Le Prix Marcel Duchamp 2000, Paris: ADIAF, 2001

Als Gilles Fuchs, Präsident der Association pour la Diffusion de l'Art Français, den Prix Marcel Duchamp übergab, soll Hirschhorn diesen nach der Laudatio lediglich mit einem "Merci" auf den Lippen entgegengenommen haben. Tout-Fait wollte es bezüglich Hirschhorns Wertschätzung Duchamps etwas genauer wissen. Was folgt sind dessen Antworten auf sieben Fragen, die wir neugierig an ihn gerichtet haben.

Tout-Fait: Herzlichen Glückwunsch zum Erhalt des ersten Marcel Duchamp Preises. Wie erklären Sie sich, dass dieser im Jahre 2001 erstmalig vergeben wurde?

Thomas Hirschhorn: Es ist ein Zufall, dass dieser Preis den Namen “Marcel Duchamp” trägt. Es ist ein Zufall, dass mir der Preis zugesprochen wurde

Tout-Fait: Gibt es ganz spezifische Projekte, für die Sie Ihr Preisgeld verwenden?

Thomas Hirschhorn: Ich habe das Preisgeld für die Produktion der Arbeit “Pole Self” verwendet.

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Figure 7
Marcel Duchamp, Design for "The Temptation of St. Anthony," 1946 (on the cover, the catalogue shows Max Ernst's winning entry for the Hollywood movie The Private Affairs of Bel Ami)

Tout-Fait: Duchamp hat sich stets kritisch Preisen und Jurys gegenüber geäussert, obschon er Auszeichnungen, nicht wie Breton, durchaus entgegennahm. 1946 wählte Duchamp gemeinsam mit Alfred H. Barr und Sidney Janis Max Ernsts "The Temptation of St. Anthony"(Fig.7) als Gewinner eines Wettbewerbs unter einer Anzahl von Gemälden aus, die sich alle mit dem gleichen Thema auseinandersetzten. Duchamp bemerkte zu seiner Erfahrung als Juror: "Juroren neigen dazu, falsch zu liegen…selbst die Überzeugung gerecht zu sein vermindert nicht die Zweifel am Recht, überhaupt etwas zu beurteilen."

Thomas Hirschhorn: Einen Preis zu erhalten engagiert nicht den Preisträger sondern den, der den Preis vergibt. Ich hingegen bin gegenüber meiner Arbeit engagiert und nur ihr gegenüber.

Tout-Fait: Welchen Einfluss, wenn überhaupt, hat Duchamp auf Ihre Kunst?

Thomas Hirschhorn: Die Beiträge Duchamps zur Ausstellung “Internationale du Surréalisme” (Fig.8) in Paris und die “First Papers of Surrealism”(Fig.9) in New York haben mich begeistert. Was mich beeindruckt ist sein Künstlersein-Verständnis. Marcel Duchamp war frei mit dem Eigenen.

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Figure 8
Figure 9
Marcel Duchamp, Twelve Hundred Coal Bags Suspended from the Ceiling over a Stove, 1938 (part of his installation for the Exposition Internationale du Surréalisme, Paris)
Marcel Duchamp, Sixteen Miles of String, 1942 (part of his installation for the First Papers of Surrealism exhibition, NY)

Tout-Fait: Erinnern Sie sich an das erste Mal, als Sie mit Duchamps Werk konfrontiert wurden?

Thomas Hirschhorn: Das war in der Kunstgewerbeschule Zürich (heute Schule für Gestaltung) im Kunstgeschichteunterricht. Wir diskutierten das Bild “The Passage from Virgin to Bride”(Fig.10), die Arbeiten, die er danach machte wie die “Broyeuse de Chocolat” (Fig.11) oder das grossartige Werk “The Large Glass”(Fig.12) und die “Ready-Made”. Dann las ich das für mich sehr wichtige Buch von Thierry de Duve “Nominalisme Pictural”. Später sah ich im Philadelphia Museum of Art die wunderschöne Louise und Walter Arensberg Collection.

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Figure 10
Figure 11
Figure 12
Marcel Duchamp, The Passage from Virgin, 1912
Marcel Duchamp, Chocolate Grinder, No.1, 1913
Marcel Duchamp, The Bride Stripped Bare by Her Bachelors, Even, (aka the Large Glass), 1915-23

Tout-Fait: Sie haben einmal gesagt "Was mich interessiert, ist das Zu-viel-Tun, das Leisten einer Über-Arbeit, wie beim Licht". Ist diese Bemerkung mit Duchamps Notizen zu "Infra-mince" vergleichbar (erstmals posthum publiziert in "Marcel Duchamp, Notes", Paul Matisse, Hrsg., 1980, Nr.1-46).  Darin bekundet er unter anderem sein Interesse an der Wärme von Stühlen, nachdem man auf ihnen gesessen hat, die Extra-Energie, die man auf das Herabdrücken eines Lichtschalters, etc., verwendet.

Thomas Hirschhorn: Das kann man nicht vergleichen. Mich interessiert das "zuviel", zuviel-tun, zuviel-geben, sich ausgeben, Kraft verschwenden. Verschwendung als Werkzeug oder Waffe.

Tout-Fait: In Ihren Arbeiten meine ich ständig den inhärenten Unwillen zu erkennen, überhaupt etwas im gegebenen Kunstweltkontext auszustellen. Ihre Installation im Guggenheim Shop vor einigen Jahren war so eine Totalverweigerung ohne dabei Nein zu sagen. Duchamp stellte seine Readymades zu Beginn nicht aus und weigerte sich oft, an Ausstellungen teilzunehmen. Sind  Ihre neuen Arbeiten (die ich erstmalig auf der Armory Show 2001 sah) im klassischen Öl-auf-Leinwand Grossformat (mit Rahmen, zum an die Wand hängen) ein erster Kompromiss hinsichtlich der Vorführbarkeit Ihrer Werke (in Wohnungen von Sammlern z.B.), ähnlich wie Duchamps spätere Editionen der Ready-mades?

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Figure 13
Figure 14
Thomas Hirschhorn's handwritten response (in German), faxed on September 20, 2001

Thomas Hirschhorn: Duchamp hat keine Kompromisse gemacht. Er war der intelligenteste Künstler seines Jahrhunderts.

 

 

 

 

 

Das Interview wurde von Thomas Girst via e-mail und Fax geführt. Thomas Hirschhorns Antwortschreiben ging ASRL am 20. September 2001 in Form zweier handgeschriebener Seiten, exkl. Deckblatt, zu.  Frau Petra Gördüren, Galerie Arndt&Partner, Berlin, sei für die Herstellung des Kontakts und Frau Sophie Pulicani, Atelier Thomas Hirschhorn, Paris, für die Zusendung der Abbildungen gedankt.

 

Figs. 7-12
©2002 Succession Marcel Duchamp, ARS, N.Y./ADAGP, Paris. All rights reserved.

 


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